Helge Renner
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Helge Renner »

Hallo Dirk,

ich komme erst jetzt zum Antworten. Für euren Einsatzfall mag das mit der unauffälligen Technik stimmen, man kann es aber nicht verallgemeinern. Bei meinen Projekten ist es eher eine Frage der Sperrigkeit und Tragbarkeit.

Davon abgesehen verändert jedes Filmteam, selbst Einpersonenproduktionen mit Kleinstkamera die Situation vor der Kamera. Dokumentarfilm dokumentiert auch immer den Einfluss der anwesenden Filmemacher auf den Film mit. Sofern die Protagonisten nicht gehirntot sind, bekommen sie ja mit, das gefilmt wird. Man kann als Filmemacher diesen Effekt nur minimieren, aber nicht beseitigen.

Dokumentarfilm ist also immer auch inszeniert, selbst wenn er völlig ungescriptet ist. Die Größe der Kamera bleibt dabei aus meiner Erfahrung ein sekundäres Problem. Es kommt natürlich auch darauf an, wie viel Zeit man vor und während der Dreharbeiten mit den Protagonisten verbringt. Wenn man Leute recherchiert, die vor allem noch aus völlig anderen Kulturkreisen kommen, einfliegt, filmt und wieder abdüst, dann ist das sicher eine andere Situation, als wenn man längere Zeit mit den selben Leuten filmt.

Interviews sind sowieso ein Sonderfall. Ich persönlich sehe lieber Filme mit möglichst wenig Interviews und viel Handlung, es sei denn, sie sind von Errol Morris. Interviews höre ich mir lieber im Radio an, z.B. Lebenslinien auf DLF. Warum in Deutschland soviel illustrierte Interviews produziert werden, die man dann Dokumentarfilm nennt, erschließt sich mir nicht so richtig. Noch schlimmer wird es, wenn ein paternalistischer Kommentar hinzu kommt. So altbacken wie die deutschen Fernsehdokus sind, so erfolglos sind deutsche Dokumentarfilme gemessen am Volumen von Filmförderung und Rundfunkbeitrag auf internationalen Festivals. Deshalb finde ich die Diskussion über Filmästhetik sehr bereichernd und freue mich, dass sich eine solche unter diesem Amira Testbericht entspinnt.

Viele Grüße
Helge
PrincipeAzzurro hat geschrieben:
Helge Renner hat geschrieben:Die Größe und Auffälligkeit der Kamera ist hingegen zweitrangig. Solange nicht die Notwendigkeit besteht, unbemerkt zu filmen, ist es egal, wie groß die Kamera ist. Wenn man es als Dokumentarfilmer nicht schafft, dass die Kamera die Protagonisten nicht stört, dann hat man andere Probleme, als die Größe der Kamera.
Ganz ohne Polemik und nur aus meiner eigenen Wahrnehmung der Realität und Erfahrung der letzten Jahre: von "Zweitrangigkeit" kann überhaupt nicht die Rede sein. Auch geht es nicht in erster Linie darum, "versteckt" zu drehen, sondern die Lebenssituationen Deiner Protagonisten und deren Umfeld durch Kameras nicht komplett zu verändern. Denn das Ur-Dilemma eines jeden Dokumentaristen liegt genau hier: wie stark verändere ich durch meine Präsenz die Authentizität meines Sujets, seiner Aussagen un Art und Weise zu sprechen, seines Umfeldes (Familie etc) und so weiter? Das Zusammenspiel der Präsenz von "Fremden" am Ort (also die Team-Größe, Art der Ausrüstung, das persönliche Auftreten und der Umgang mit den Menschen am Ort) stehen in unmittelbarem Verhältnis mit dem Resultat im Film. Auch mit "kleinen" Kameras ist die einzige Möglichkeit normalerweise, Deine Umgebung langsam an Dich (und: das Team der "Weißhäutigen", die Ausrüstung mit Rucksäcken voller Objektive, Mikrofone und überhaupt "Technik") zu gewöhnen, sodass nach ein paar Stunden (oder Tagen, oder Wochen…) das ursprüngliche Gleichgewicht wieder hergestellt ist - zumindest einigermaßen.
Und dann hast Du meist ein inhaltliches Problem, was nicht zu unterschätzen ist und meist sehr viel länger braucht, um "ausgeglichen" zu werden: denn sehr oft sprechen Deine Protagonisten beim ersten Gespräch über ihr "Thema" in einer völlig anderen, meist sehr viel ungefilterten, unbefangenen Art, als sie es nach einer gewissen "Gewöhnung" an Dich (dein Team etc) tun. Und natürlich willst Du (meist) diese erste Begegnung im Film, denn dabei benutzten die Protagonisten "ihre" Worte, "ihre" Sprache etc, während nach soundsoviel Tagen der "Gewöhnung" fast zwangsläufig eine Art von gegenseitiger Beeinflussung stattfindet. Denn so wie Du zum Beispiel von dem kaschmirischen Bootsmenschen und seiner Lebensart beeindruckt bist und sie versuchst möglichst authentisch zu filmen, so ist auch er (der Kaschmiri) von Dir "beeindruckt" (da kommt einer 10.000km aus Europa um mich zu filmen) und versucht, sich Dir zu "nähern", es Dir "recht zu machen" usw.
Noch anders sieht es aus, wenn Du in Ländern drehst, wo die Menschen entweder keine Kameras gewohnt sind, oder durch die politische bzw. politisch-religiöse Situation ihres Landes bzw. Kulturkreises Kameras "als solche" verboten oder verpönt sind. Geh mal in Saudi-Arabien - auch in Riyadh - mit einer Amira durch die Strassen der Altstadt - selbst wenn Du eine Drehgenehmigung hast, wird Dein Auftauchen mit einem solchen Teil sehr viel eher dazu führen, dass die Menschen vor Dir "fliehen", als wenn Du mit einer DSLR oder einer BMPCC daher kommst. Denn "Bilder" sind in ihrem Glauben "schlecht" und nicht verankert, sondern explizit verboten bzw. durch dieses lange Verbot auch gesellschaftlich komplett verpönt. Und bis Du ihnen "erklärt" hast, dass Du erstens offiziell filmen darfst und zweitens ihnen mit Deiner Kamera nicht "die Seele wegnimmst" (authentisches Zitat), ist durch genau diese Art von Gespräch ein riesiger Teil der ursprünglichen Unbefangenheit bereits "verschwunden" - sehr oft unwiederbringlich. Und genau hier hilft eine kleine BMPCC sehr viel mehr als eine 60cm+ Amira, diese Art von Gespräch oder Diskussion zu verkürzen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Das ist die - leider doch etwas längere - Antwort auf den Satz, dass Größe und Auffälligkeit der Kameras "zweitrangig" sind. Ich könnte mehr und länger schreiben, ist aber nicht der Ort / der Zeitpunkt dafür…



handiro
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von handiro »

Content rules. Ich habe diese ganze re-enactment Abteilung satt. Die 3 Stimmen die man immer hört auch. Ich liebe die schweizer Schule: Kommentare höchstens als Text im Bild. Den Rest muss das Filmmaterial hergeben. Insofern finde ich solche Diskussionen immer gut auch wenn es nur peripher um die Arri geht und abrutscht. Auch ich mag den "fly on the wall" Aspekt. Das ist IMHO immer spannender als gescripted. Es gibt aber ein paar Kameramänner die können das auch mit ner Amira ;-)
Good-Cheap-Fast....Pick Any 2



Frank Glencairn
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Frank Glencairn »

Drushba hat geschrieben: Aus meiner Sicht ist der Unterschied zwischen Dokumentarfilm und Dokumentation ähnlich wie zwischen Literatur und Groschenromanen, welchen das "literarische" bzw. "echte" fehlt, die aber schneller zu konsumieren sind. Ein echter Dokumentarfilm handelt zudem von Menschen und nicht von Sachthemen.
Für mich gibt es 2 Kategorien (egal wie man sie jetzt nennen mag) die einen haben den Anspruch aufzurütteln, anzuklagen, Zeichen zu setzen, Bewußtsein für irgendwas zu erzeugen und natürlich zu belehren, während die anderen einfach nur unterhalten wollen.

Erstere Kategorie braucht für gewöhnlich irgendeine unterdrückte/geschundene Opfer-Gruppe, oder eine entsprechende Opfer-Location (abgeholzter Regenwald, Fracking Gasfeld etc). Auf dem Rücken der Opfer wird dann oft unter dem Vorwand des "awareness generating" Trittbrettfahrermäßig ein Film gedreht. Dieses Rezept, zusammen mit anklagendem Kommentar, Kinder-Kulleraugen und rührseliger Musik, ist eine ziemliche Garantie, für jede Menge Förderung, Festivals und Preise.

Die zweite Kategorie braucht keine Opfer, sondern kommt mit einem interessanten Thema aus, das visuell möglichst ansprechend, unterhaltsam und kurzweilig umgesetzt wird, ohne irgendeinen Weltverbesserungsanspruch.



iasi
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von iasi »

Frank Glencairn hat geschrieben:
Drushba hat geschrieben: Aus meiner Sicht ist der Unterschied zwischen Dokumentarfilm und Dokumentation ähnlich wie zwischen Literatur und Groschenromanen, welchen das "literarische" bzw. "echte" fehlt, die aber schneller zu konsumieren sind. Ein echter Dokumentarfilm handelt zudem von Menschen und nicht von Sachthemen.
Für mich gibt es 2 Kategorien (egal wie man sie jetzt nennen mag) die einen haben den Anspruch aufzurütteln, anzuklagen, Zeichen zu setzen, Bewußtsein für irgendwas zu erzeugen und natürlich zu belehren, während die anderen einfach nur unterhalten wollen.

Erstere Kategorie braucht für gewöhnlich irgendeine unterdrückte/geschundene Opfer-Gruppe, oder eine entsprechende Opfer-Location (abgeholzter Regenwald, Fracking Gasfeld etc). Auf dem Rücken der Opfer wird dann oft unter dem Vorwand des "awareness generating" Trittbrettfahrermäßig ein Film gedreht. Dieses Rezept, zusammen mit anklagendem Kommentar, Kinder-Kulleraugen und rührseliger Musik, ist eine ziemliche Garantie, für jede Menge Förderung, Festivals und Preise.

Die zweite Kategorie braucht keine Opfer, sondern kommt mit einem interessanten Thema aus, das visuell möglichst ansprechend, unterhaltsam und kurzweilig umgesetzt wird, ohne irgendeinen Weltverbesserungsanspruch.
Dir kommt scheinbar nicht in den Sinn, dass es auch Dokus gibt, denen es um ein Thema geht.

Was du unter der ersten Kategorie siehst, ist doch eigentlich gerade die Unterhaltungsschiene. Wer nur Klischees bedient, der hat doch nicht wirklich etwas zu sagen und die Doku wird zum Selbstzweck - eben zur Unterhaltung.

Wenn ich an Dokus wie "Töte zuerst" denke, ist da ein Thema - zuerst und zuletzt.



Drushba
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Drushba »

Frank Glencairn hat geschrieben: Für mich gibt es 2 Kategorien (egal wie man sie jetzt nennen mag) die einen haben den Anspruch aufzurütteln, anzuklagen, Zeichen zu setzen, Bewußtsein für irgendwas zu erzeugen und natürlich zu belehren
Hm, genau dies würde ich ja gerade nicht unter "Dokumentarfilm" subsumieren, sondern unter den gescripteten Formaten wie Dokumentation oder Essayfilm, also TV-Mainstream, welcher nicht abbildet was die Kamera vorfindet, sondern was dem Wunsch des Filmers oder des Redakteurs enspricht. Im Grunde ist dies Propagandafilm und ein größtmöglicher Gegensatz zum (beobachtenden) Dokumentarfilm und dessen Anspruch, zu zeigen was ist und nichts weiter als das was ist.

Die Wahrheit und Poesie kommt bei diesen von Dir zitierten "Dokus" (grauenhaftes Wort, weil so beliebig) nicht aus der leisen Beobachtung und damit aus den Protagonisten, sondern aus der Montage und den Behauptungen der Macher. Nicht das gezeigte ist wahr, sondern nur der Wunsch des Filmers, uns zu einer Meinung zu bewegen. Auf guten Festivals sehe ich das weniger.

"Direct cinema" bzw. das "Fly-on-the-Wall" Prinzip ist und war hingegen eine gute Richtung, die ich im ganzen Meer der medialen Lügen immer noch am liebsten sehe, eben weil sie direkt ist, ohne Script und ohne Kommentar auskommt und - Ehrlichkeit des Dokfilmers vorausgesetzt - tatsächlich nur zeigt, was ist. Diese ist nicht einfach zu machen, eben weil es innere Haltung, Respekt und äussere Balance des Filmers benötigt, um Menschen überhaupt dazu zu bringen, sich vor der Kamera über Wochen und Monate zu öffnen. Auch im Schnitt sollte man IMHO nicht der Versuchung erliegen, Szenen zu mischen, auch wenn sich das gerade anbietet. Zum Glück wird diese Richtung immer noch gemacht, wenn auch leider nicht oft in Reinform. Der beobachtende Dokumentarfilm ist regelmässig auf guten Festivals zu sehen, wo die Vertreter seiner Gattung meist auch die Preise abräumen.

Ein sehr schönes Beispiel finde ich "Cinema mon Amour", die Geschichte eines rumänischen Kinoamanagers, der mit seinen Leuten um sein Kino kämpft. Hier geht es nicht um Politik, sondern darum wie Menschen bzw. menschliche Charaktere mit Leidenschaft für ein Ziel eintreten, welches eigentlich schon verloren ist. Nebenbei beobachtet man ganz unspektakuär rumänische Mentalität aus der Binnenperspektive und lernt an diesem kleinen beobachtenden Film eine ganze Menge über das Land und Menschen bzw. menschliche Haltungen an sich (auch wenn der Trailer unterlegte Interviewpassagen beinhaltet, der Film als Ganzes kommt mit wenigen davon aus):
http://cinemamonamour.com/#trailer
Gedreht übrigens auf der C100/300.


PS: Hatte jetzt mal eine Amira auf der Schulter - gefühlt schwerer als eine alte Beta SP - wie will man mit so einem Klops den ganzen Tag rumrennen und filmen? Da würde ich entscheidende Situationen schon aus Faulheit, Schulterschmerz oder Müdigkeit verpassen :)



Jake the rake
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Jake the rake »

Artist unknown...
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domain
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von domain »

Drushba hat geschrieben: Hm, genau dies würde ich ja gerade nicht unter "Dokumentarfilm" subsumieren, sondern unter den gescripteten Formaten wie Dokumentation oder Essayfilm, also TV-Mainstream, welcher nicht abbildet was die Kamera vorfindet, sondern was dem Wunsch des Filmers oder des Redakteurs enspricht...
Die Wahrheit und Poesie kommt bei diesen von Dir zitierten "Dokus" (grauenhaftes Wort, weil so beliebig) nicht aus der leisen Beobachtung und damit aus den Protagonisten, sondern aus der Montage und den Behauptungen der Macher. Nicht das gezeigte ist wahr, sondern nur der Wunsch des Filmers, uns zu einer Meinung zu bewegen.
"Direct cinema" bzw. das "Fly-on-the-Wall" Prinzip ist und war hingegen eine gute Richtung:)
Die differenzierenden "Schubladierungen" in Unterkategorien vom Allgemeinbegriff Doku bringen aber nicht viel.
So kann speziell die Wahrheit bei gescripteten Dokus sogar noch stärker und mehr verdichtet zum Ausdruck gebracht werden. Zuvor muss natürlich eine Menge an Beobachtungen und Analysen stattgefunden haben, wie z.B. bei Ulrich Seidls Paradies Liebe.
Vieles auch selbst beobachtet und schon immer für eine (teilweise gespielte) Doku für würdig empfunden.



Drushba
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Drushba »

domain hat geschrieben: Die diversifizierenden "Schubladierungen" in Unterkategorien vom Allgemeinbegriff Doku bringen aber nicht viel.
Ich denke genau diese Unterscheidung bringt Licht in das Debakel, welches durch das Unwort "Doku" gestiftet wird. Seit den zwanziger Jahren wird darüber gestritten, wie ein Dokumentarfilm gedreht werden soll, damit eben das Manipulative wegfällt, welches den Blick auf das real Seiende verstellt. Dies geschah nicht zuletzt vor dem Hintergrund des ersten Weltkriegs und seiner Lügenpropaganda, welche den Film mit scheinbar realen Bildern auf allen Seiten dazu nutzte, die Massen auf den Gegner einzupeitschen. Jede Diktatur, jede politische Strömung nutzt das Medium Film, um ihre Sicht darzulegen. Kommentare werden über beliebig gedrehte Bilder gelegt, um uns im jeweiligen Sinne zu manipulieren. Da hat sich seit hundert Jahren nichts verändert und das trotz des Widerstands von Generationen von Filmemachern, welche bewusst das Genre des Dokumentarfilms entwickelten, um etwas dagegen zu halten, eben zu zeigen was ist und nicht das Gezeigte zu benutzten um uns zu manipulieren. Auf der anderen Seite haben wir Redakteure, die nichts von Film verstehen und munter alle Formen der Manipulation (Scripten, Szenen nachstellen etc.) in das Lügencocktail einmischen lassen, welches sie dann "Dokumentarfilm" nennen.
domain hat geschrieben:So kann speziell die Wahrheit bei gescripteten Dokus sogar noch stärker und mehr verdichtet zum Ausdruck gebracht werden. Zuvor muss natürlich eine Menge an Beobachtungen und Analysen stattgefunden haben, wie z.B. bei Ulrich Seidls Paradies Liebe.
Vieles auch selbst beobachtet und schon immer für eine (teilweise gespielte) Doku für würdig empfunden.
Hier haben wir schon wieder das Wort "Doku" als Synonym für alles, was eben nicht "dokumentarisch" ist. "Gescriptete Dokus" sind ohnehin meist Filme über Sachthemen und damit keine Dokumentarfilme sondern Dokumentationen. Das sind Begriffe, die in der Filmtheorie und Filmgeschichte nicht ohne Grund unterschieden werden. Ein klassischer Dokumentarfilm beobachtet das was ist, nimmt nichts davon weg und fügt auch nichts hinzu. Es bringt rein gar nichts für die Wahrheitsfindung, Meinungen zu bebildern, welche man auch als Text bzw. Essay für eine Zeitung schreiben könnte. Das ist pure Manipulation, wohingegen der Dokumentarfilm ja genau das Gegenteil davon erreichen will. Und in einem Meer der medialen Lügen kann der beobachtende Dokumentarfilm eben die kleine Insel sein, welche zeigt, was wirklich ist. In der Regel wird dies über ruhige Beobachtungen von Menschen erreicht und dabei keine Kommentare, Offtexte oder ähnliches verwendet. Generationen von Filmemachern haben sich hierfür eingesetzt. "Neue Sachlichkeit", "Direct Cinema", Cinéma Verité" sind die Ergebnisse dieser Diskussionen, wie erreicht werden kann, dass ein Film möglichst nicht manipulativ gedreht wird.

Das Tragische ist die Ignoranz vieler heutiger Filmer, ihre Weigerung, eben nicht mehr Philosoph zu sein, Unterscheidungen zu suchen und sich mit der Wirkung der Bilder auseinanderzusetzen. Auch dass aus Unwissenheit hier permanent Begriffe vermischt werden, alles "Dokumentarfilm" genannt wird, wodurch letztendlich die Ergebnisse von fast einhundertjährigen und sehr fruchtbare Debatten und Entwicklungen vernichtet werden. Das ist ein Rückschritt, für den aber nicht zuletzt auch Sender als Auftraggeber und deren ignorante Redakteure verantwortlich sind. Allerdings nennen diese ja neuerdings auch Nachrichtenbeiträge "Kurzfilme" um sich zu adeln ;-



domain
Beiträge: 11062

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von domain »

Wertfreie und nur beobachtende Dokumentation halte ich für schlicht unmöglich.
Schon allein zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort man mit sgn. wertbefreiten Aufnahmen beginnt ist beabsichtigt.
Immer steckt eine gewisse Vorstellung von den gewünschten Aufnahmen dahinter und das allein schon bedeutet eine gewisse Zielgerichtetheit.
Jeder Filmschaffende hat eine Vision von seinen noch zu machenden Aufnahmen.
Keine Rede von absolut reinen, wertfreien, nicht vorhersehbaren und auf sich zukommenlassenden Ereignissen.



handiro
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von handiro »

+1! @ Drushba! Die offensichtliche Manipulation in "Dokumentationen" und "Berichterstattung" ist genau das, was dem Namen "Dokumentarfilm" schadet :-)

So gehört für mich beim Dokumentarfilm dazu, dass SPONTANEITÄT und Zufall wichtige Elemente sind. Ich liebe solche Momente wo dann eben auch mal der vorhandene Kamerabediener angesprochen wird und das NICHT rausgeschnitten wird.

Sowas läuft im TV höchstens mal morgens um drei Uhr auf Phoenix...
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Frank Glencairn
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Frank Glencairn »

Drushba hat geschrieben:
Es bringt rein gar nichts für die Wahrheitsfindung, Meinungen zu bebildern, welche man auch als Text bzw. Essay für eine Zeitung schreiben könnte. Das ist pure Manipulation, wohingegen der Dokumentarfilm ja genau das Gegenteil davon erreichen will. Und in einem Meer der medialen Lügen kann der beobachtende Dokumentarfilm eben die kleine Insel sein, welche zeigt, was wirklich ist. In der Regel wird dies über ruhige Beobachtungen von Menschen erreicht und dabei keine Kommentare, Offtexte oder ähnliches verwendet.
Seh ich anders. Wir haben vor ein paar Jahren für Arte einen 50 Minuten Film über die Arbeit der Jungs der Lawinenkontrolle in Kanada gedreht. Wenn da kein Sprecher, und keine Interviews drin gewesen wären, dann wäre das ganze völlig unverständlich und unanschaubar geworden. Manch Zusammenhänge muß man halt einfach erklären, weil sie allein durch das Anschauen sonst rätselhaft bleiben.



Jott
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Jott »

Als Nicht-Dokumentarfilmer würde ich mal behaupten, dass ein Film grundsätzlich per se etwas Manipuliertes ist. Sein muss. Durch Kameraführung, Schnitt (besonders manipulativ!) und Ton. Die Welt wird in ein Rechteck gepackt, so wie es der Regisseur/Kameramann für richtig hält, egal welcher hehren Denkrichtung er nacheifert.

Die "echteste" Doku über meinetwegen ein afghanisches Dorf wäre wohl heute, eine kleine 360 Grad-Kamera auf einem menschenhohen Stab am Dorfplatz in den Lehm zu stecken. Dann eine Woche warten, bis sich alle dran gewöhnt haben, und dann einen Tag von Morgengrauen bis Sonnenuntergang laufen lassen. Nichts schneiden, nichts bearbeiten. Ein Tag im Dorf. Fertig. Der Zuschauer darf selbst entscheiden, wo er hinguckt und sich gerne auch real langweilen, wenn in der Mittagshitze stundenlang niemand aufkreuzt.



Drushba
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Drushba »

Frank Glencairn hat geschrieben: Seh ich anders. Wir haben vor ein paar Jahren für Arte einen 50 Minuten Film über die Arbeit der Jungs der Lawinenkontrolle in Kanada gedreht. Wenn da kein Sprecher, und keine Interviews drin gewesen wären, dann wäre das ganze völlig unverständlich und unanschaubar geworden. Manch Zusammenhänge muß man halt einfach erklären, weil sie allein durch das Anschauen sonst rätselhaft bleiben.
Ohne ihn gesehen zu haben - ich vermute mal, der Sachaspekt stand im Vordergrund und nicht die Beobachtung der Menschen und ihrer Haltungen. Dann wäre Dein Film meiner Meinung nach ein typisches Beispiel für Dokumentation/ Reportage im Unterschied zu beobachtendem Dokumentarfilm. Dokumentation oder Reportagen benötigen Kommentare, Interviews etc., werden dadurch aber im Grunde beliebig. Es gibt aber durchaus klassische Dokfilmer, die über die Beobachtung der Menschen auch das Thema miterzählt hätten, nur ist dies gerade bei Arte schwer durchzusetzen. Beispiel aus den Bergen: "Tablau Noir" - Film über eine Zwergschule in Frankreich: Kein einziges Interview, kein Offtext und trotzdem wissen wir am Ende mehr über den kleinen Mikrokosmos, als wenn uns jemand den Erklärtext dazu vorgelesen hätte.

https://www.youtube.com/watch?v=FD7gBlRpQJM

Solche Filme werden von Arte aber in der Regel für lächerliche Summen angekauft, und meist erst nachdem sie bereits einen erfolgreichen Festivallauf hatten. Ein Grund, warum der Dokumentarfilmbereich nach wie vor ideell ist.

Jott hat geschrieben: Die "echteste" Doku über meinetwegen ein afghanisches Dorf wäre wohl heute, eine kleine 360 Grad-Kamera auf einem menschenhohen Stab am Dorfplatz in den Lehm zu stecken. Dann eine Woche warten, bis sich alle dran gewöhnt haben, und dann einen Tag von Morgengrauen bis Sonnenuntergang laufen lassen. Nichts schneiden, nichts bearbeiten. Ein Tag im Dorf. Fertig. Der Zuschauer darf selbst entscheiden, wo er hinguckt und sich gerne auch real langweilen, wenn in der Mittagshitze stundenlang niemand aufkreuzt.
Nein, das alte "Überwachungskamerabeispiel" ist eben ein klassisches Beispiel dafür, wie ein Dokumentarfilm nicht sein kann. Wir wollen nicht die Draufsicht auf die Dinge, sondern die Einsicht. Dazu müssen wir Nähe zu unseren Protagonisten herstellen, viel Zeit mitbringen, die Abläufe kennenlernen, Stories sehen, unsere Sicht verlassen, ihre Sicht einnehmen und dahinter das universell gültige Menschliche entdecken, welches uns mit einem afrikanischen Dorf ebenso verbindet wie mit einer Großstadt á la Tokyo. Das geht durchaus, auch wenn 100% nie erreicht werden, da gebe ich Dir Recht, da auch Dokumentaristen individuelle Menschen mit kultureller Vorprägung sind. Ein Deutscher Dokumentarist würde im Detail eventuell länger bei der Technik des Feuermachens zusschauen, ein Franzose eher beim Kochen und dabei andere Substories entdecken;-) Und trotzdem würde sich aus der Gesamtheit - die ehrliche Haltung der Macher vorausgesetzt - in beiden Fällen ein ziemlich wirkliches Bild oder zumindest ein faszinierender Ausschnitt aus der Wirklichkeit eines afrikanischen Dorfes und ihrer Menschen ergeben, welches eine bloße Laber-Dokumentation oder Reportage nie erfüllen könnte.



dienstag_01
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von dienstag_01 »

@Drushba

Eine Doku (ich bleib mal bei dem Wort) mit Voice-Over, Montage etc. ist per se respektlos, ohne Haltung und kann niemals poetisch sein?
Umgekehrt bringt der Verzicht auf diese Mittel uns automatisch Wahrheit und schließt Manipulation aus?

Ich respektiere Haltung sehr. Und ich hab auch gar nichts gegen Dogmen. Aber vielleicht sollte man die einfach nur für sich persönlich zum Maßstab machen und nicht für alle (siehe die Gruppe um L. v. Trier). Regeln, denen man folgt, die man sich aber nicht selbst auferlegt hat, sind das Ergebnis von Anpassung. Mit Haltung im Sinne von in der Persönlichkeit verwurzelten Kriterien hat das nichts zu tun.

Man sollte auch nie die Machtkomponente unterschlagen. Wer Sendeplätze vergibt, hat Macht. Versteht jeder. Aber Festivalpreise wollen uns auch was sagen. Mitunter viel.



mash_gh4
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von mash_gh4 »

ich glaube, dass man das erfolgsrezept in diesen dingen nicht so einfach festlegen kann. es gibt ganz verschiedene zugänge, wie einzelne vorbilder in dieser frage ihrem ziel näher gekommen sind. sehr oft auch in form einer langsamen weiterentwicklung, so dass sich in ihrem werk recht unterschiedliche ausprägungen und versuche aufzeigen lassen.

ich würde als einen, der vermutlich wichtigsten deutschen vertreter dieses genres, den peter nestler nennen, und seine filme unbedingt jedem ans herz legen!

er ist im übrigen auch ein wunderbares beispiel dafür, dass gute filmarbeit selten mit jubelndem erfolg und materieller gratifiktion bedankt wird. vielmehr bedarf es wohl ausgeprägter starrköpfigkeit und überdurchschnittlichem durchhaltevermögen, seinen weg derart unbeirrt zu verfolgen. gerade diese wirklich beeindruckenden vorkämpfer haben sehr oft einen beträchtlichen preis dafür gezahlt, nicht mit dem strom zu schwimmen. dafür sieht man in ihren werken, wie gekonnt sie sich zu positionieren verstanden haben, um ganz einfachen dingen und zuständen eine stimme zu verleihen, die gewöhnlich ausgeklammert bleibt.



Frank Glencairn
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Frank Glencairn »

Drushba hat geschrieben: Ohne ihn gesehen zu haben - ich vermute mal, der Sachaspekt stand im Vordergrund und nicht die Beobachtung der Menschen und ihrer Haltungen. Dann wäre Dein Film meiner Meinung nach ein typisches Beispiel für Dokumentation/ Reportage im Unterschied zu beobachtendem Dokumentarfilm. Dokumentation oder Reportagen benötigen ...

Beispiel aus den Bergen: "Tablau Noir" - Film über eine Zwergschule in Frankreich: Kein einziges Interview, kein Offtext und trotzdem wissen wir am Ende mehr über den kleinen Mikrokosmos, als wenn uns jemand den Erklärtext dazu vorgelesen hätte.
Nö, wie ich schon geschrieben hatte, es ging um die Menschen, die diesen Job machen.
Aber dazu muß man nicht zwingend immer Papperaziartig aus dem Hintergrund schießen, wie ein Sniper, immer in der Hoffnung, das irgendwas passiert.

Auch wenn Tablau Noir versucht den "fly on the wall" Eindruck zu vermitteln, natürlich war das meiste vorher geplant und abgesprochen.
Also in der Art wie, wir fahren da jetzt mit dem Auto entlang, dann stoppst du, machst die Scheibe runter und sprichst mit dem Traktorfahrer, der da steht (und der wußte natürlich auch vorher bescheid), sonst hätte er zuerst gefragt warum der Beifahrer ne Kamera auf ihn hält.
Mann spürt das auch, daß sich alle ständig der Kamera bewußt sind, und sich entsprechend verhalten. Also eigentlich genau das Gegenteil von diesem Dokumentarfilmer Anspruch.

Wenn sowas überhaupt klappt, dann mit einer 600er Brennweite aus dem Hinterhalt - so wie bei einem Tierfilm.Aber warum soll man so was machen wollen, wenn ich auch viel inhaltlich interessanteres, und visuell ansprechenderes Material drehen kann?

Auch wenn du das abstreitest, IMHO ist diese Art zu drehen nicht nur ein selbstauferlegtes Dogma, das aus einer Ideologie heraus geboren ist , es schränkt einen auch noch unnötig in seiner filmischen und visuellen Ausdrucksweise ein. Nicht umsonst sind alle Versuche das Rad neu zu erfinden (Cinema Verite, Dogma, New Cinema usw.) grandios gescheitert, und man ist nach einem kurzen Hype, weitgehend wieder zur klassischen Form zurück gekehrt.



rob
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von rob »

Da ja auch schon ein Paar große Dokumentarfilmer genannt wurden: Hier noch ein weiterer der ganz Großen in Deutschland: Volker Koepp:

Und ein Interview mit ihm zu seinen Interviewtechniken - kommen auch einige der in diesem Thread bereits genannten interessanten Fragestellungen (Inszenierung, Multi-Kamera Setups, etc. ) darin vor:

https://youtu.be/ZE96u93druk

Persönlich fällt es mir schwer, Volker Koepp mit einer der hier genannten DOK-Film Kategorien zu belegen. Er hat ja sowohl viel Gespräch in seinen Filmen als auch einen "romantischen" Zugang zur Naturdarstellung. Interessant finde ich bei ihm die häufige Selbstreferenz in der Gesprächssituation: Also das Gespräch als gefilmtes Interview selbst in der Gesprächssituation zu benennen ...

Viele Grüße

Rob



Frank Glencairn
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Frank Glencairn »

Ehrlich gesagt finde ich gerade Koepp's Interviewtechnik extrem grausig. Immer wenn er hinter der Kamera (natürlich ohne eigenes Mikro - hat man ja nicht nötig) hervor plärrt, und schwachsinnige Fragen wie "was ist das für eine Zeitung, und wie heißt die Überschrift?" stellt, kommt bei mir der fremdschäm Reflex hoch.

Da wird versucht auf Teufel-komm-raus, mit allen Mitteln irgendwas aus den armen Leuten raus zu pressen. Seine Interview Partner kommen mir immer wie Affen vor, die vorgeführt werden.



Jott
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Jott »

Frank Glencairn hat geschrieben:Immer wenn er hinter der Kamera (natürlich ohne eigenes Mikro - hat man ja nicht nötig) hervor plärrt
Ja, grausig, ohne Mikro. Ich habe aus Neugier gerade ein paar Trailer geguckt. Was soll so was? Nicht meine Welt.



domain
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von domain »

In welche Schublade wäre eigentlich Ulrich Seidls neueste Doku "Safari" einzuordnen?
Ein Film über die bezahlenden Waidlöcher in Afrika.
Läuft außer Konkurrenz auch bei den Filmfestspielen in Venedig. Viele der gestellten Aufnahmen sind eindeutig schon aus fotografischer Sicht vorher überlegt und kadriert. Er kommt ja aus der fotografischen Ecke. Spezieller Kompositionsstil: zentrisch bei den szenischen Aufnahmen.
Jedenfalls alles andere als Fly on the Wall-Aufnahmen. Aber auch Fliegen und speziell Gelsen sitzen ja nicht zufällig auf Mauern, in deren Umgebung es interessant stinkt und Vielversprechendes zu erwarten ist :-)



Ein m.E. perfekter Trailer, sowohl in der Bildauswahl als auch im Ton und überhaupt stilistisch.
Ich frage mich nur, wie es möglich ist, dass jemand trotz gescripteter und gestellter Aufnahmen die Realität meiner Meinung nach besser und dichter erfassen kann, als jemand mit einer nur neutral beobachtenden Fly-Kamera auf der Mauer.



Frank Glencairn
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Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Frank Glencairn »

domain hat geschrieben:In welche Schublade wäre eigentlich Ulrich Seidls neueste Doku "Safari" einzuordnen?
In die Schublade, so geht Doku 2016.

In meinen Augen um Längen besser als Koepp, und die anderen üblichen Verdächtigen Alt68er Doku-Filmer.



Helge Renner
Beiträge: 230

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Helge Renner »

Wobei Ulrich Seidl niemals von sich sagen würde, er machte Dokumentarfilme.
Frank Glencairn hat geschrieben:
domain hat geschrieben:In welche Schublade wäre eigentlich Ulrich Seidls neueste Doku "Safari" einzuordnen?
In die Schublade, so geht Doku 2016.

In meinen Augen um Längen besser als Koepp, und die anderen üblichen Verdächtigen Alt68er Doku-Filmer.



domain
Beiträge: 11062

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von domain »

Damit sind wir wieder beim Schubladisieren :-) Bringt das was?
Jedenfalls zählt er, genauso wie Volker Koepp zur Gruppe der Dokumentaristen als Oberbegriff.



rob
Administrator
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Beiträge: 1580

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von rob »

Denke auch, dass Schubladen bei dem Thema schwierig sind.

Und zu Volker Koepp: Klar gehört er zu einer älteren Generation von Filmemachern (- Koepp hat schon Filme gemacht, da gab´s mich noch gar nicht) Und auch wenn 68er Bashing irgendwie gerade hipp ist, finde ich dass das Label "68er" bei den aktuellen Filmen von Koepp überhaupt nicht zutrifft

Grade das Fehlen von dogmatischen Positionen wie das bereits genannte "fly on the wall" Konzept á la F. Wiseman oder plumper politischer Agitation zeichnen die Koepp-Filme der letzen Jahre aus. Zumindest die, die ich im Kino gesehen habe.

Auf den neuen Seidl bin ich allerdings auch gespannt - der müsste demnächst in die Kinos kommen ...

Viele Grüße

Rob
Zuletzt geändert von rob am Di 30 Aug, 2016 16:08, insgesamt 1-mal geändert.



Drushba
Beiträge: 2508

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Drushba »

domain hat geschrieben:Damit sind wir wieder beim Schubladisieren :-) Bringt das was?
Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt ;-)

Und überhaupt: Codec ist Codec, Kamera ist Kamera. Film ist Film. Denke nicht, daß das Schubladisieren da etwas bringt.



Helge Renner
Beiträge: 230

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Helge Renner »

Schubladisieren ist das, was du hier mit Ulrich Seidl machst.
Ich war mal auf einer mehrstündigen Masterclass mit ihm und kann dich versichern, dass er sich nicht als Dokumentarist versteht. Ich finde übrigens auch nicht, dass er in diese Schublade passt. Seidl castet die Protagonisten seiner Filme und sagt ihnen, welche Handlungen von Ihnen er gerne wie filmen möchte. Seine Filme sind damit bestenfalls eine Dokumentation der Seidlischen Sicht auf die Welt. In abgeschwächter Form trifft dies auf sehr viele Dokumentarfilme zu, und zwar seit Nanook of the North, dem allerersten sogenannten Dokumentarfilm. Dieser Begriff ist schwierig, weil er bei den Zuschauern eine Authentizitätserwartung schürt, der er nicht gerecht werden kann. Zur Rettung des Begriffs könnte man anführen, dass der Wortteil "Film" verdeutlichen sollte, dass es sich um ein Werk handelt, bei dem selektiert und inszeniert wird. Daher ist Dokumentarfilm immer noch der bessere Begriff als Dokumentation oder Doku, weil letztere diese Tatsache zu verschleiern versuchen.
domain hat geschrieben:Damit sind wir wieder beim Schubladisieren :-) Bringt das was?
Jedenfalls zählt er, genauso wie Volker Koepp zur Gruppe der Dokumentaristen als Oberbegriff.



mash_gh4
Beiträge: 4716

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von mash_gh4 »

so sehr ich auch die beschäftigung und querbezüge zur filmgeschichte schätze, so sehr würde ich deine strenge begriffliche trennung nicht unbedingt teilen. ich seh überhaupt kein problem darin, "doku" einfach als kurzform von "dokumentation", aber auch "dokumentarfilm", zu verstehen. an solchen begrifflichkeiten feinheiten sollte die kommunikation wirklich nicht scheitern.

ich hab auch kein großes problem damit, wenn das entsprechende feld relativ weit gefasst ist. da fällt eine ganze menge darunter, die mich nicht wirklich anspricht. ulrich seidel z.b. ist mir viel zu leicht verdaulich und mainstreamkompatibel, als dass ich mich ernsthafter mit seinen filmen auseinandersetzen würde. ich sehe das also genau umgekehrt zum frank glencairn.

der große dokukmentarfilmfan bin ich aber ohnehin nicht. ich schätze diese nische bzw. einzelne arbeiten und vertreter aus dieser ecke eigentlich fast nur deshalb, weil sich hier noch immer freiräume abseits der großen materialschlacht und industriellen produktion auftun. ob's mich dann aber tatsächlich beeindruckt, hat hauptsächlich damit zu tun, wie sehr die betreffenden akteure diese freiräume tatsächlich zu nutzen wissen, um auch in filmischer hinsicht -- d.h. in der spezifischen sprache dieses mediums -- etwas ernstzunehmendes zu schaffen. so lange das resultat nur als handwerklich routiniert umgesetzter mainstream zu verstehen ist, interessiert es mich einfach nicht weiter.



Helge Renner
Beiträge: 230

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Helge Renner »

Mit dem Begriff Dokumentarfilm kann ich aus den oben dargelegten Gründen leben, auch weil mir kein besserer Begriff einfällt. Dokumentation und Doku aber sollten mit Film nicht assoziiert werden und es ist sehr bedauerlich und für die Filmkunst in Deutschland bezeichnend, das Fernsehleute und Filmkritiker meistens von Dokumentation sprechen und schreiben, wenn sie Dokumentarfilme meinen. So z.B. die Direktorin des Grimme Instituts in einem längeren Interview zur Situation des Fernsehens in Deutschland.


Dabei ist unter den fünf Grimmepreisträgern der Kategorie "Wettbewerb Information & Kultur/Spezial" keine einzige Dokumentation, stattdessen eine investigative Reportage, ein innovatives TV-Kurzformat und drei lange Dokumentarfilme. Aber bereits der Name dieser Preiskategorie verrät, dass der Dokumentarfilm auch beim Grimmepreis keine Lobby hat.

In der ARD Mediathek bekommt man den Vorschlag "ausgewählte Dokus" und findet darunter eine Ansammlung von Reportagen mit Erzählonkelstimme und einen stilistisch mutlosen Dokumentarfilm über ein kleines Mädchen in Burma deren Originalstimme von einem deutschen Mädchen überquatscht wird. Man fragt sich warum, hat die ARD eine so hohe Quote von Analphabeten unter ihren Zuschauern?
http://www.ardmediathek.de/tv/Ausgewähl ... d=33649086

Eine Dokumentation ist z.B. die filmisch umfassende Aufnahme und Wiedergabe einer Konferenz so dass man alle Beiträge schön sehen und hören kann. Das hat nichts mit Film und wirklich überhaupt nichts mit Kunst zu tun. Und Doku ist eine Abkürzung von Dokumentation, schließlich heißt es die Doku, nicht der Doku. (Gelegentlich höre ich sogar "Doku-Film". Dann entsichere ich meine Browning.)
Begriffe sind nicht egal, denn wenn begrifflich nicht zwischen Dokumentation und Dokumentarfilm differenziert wird, dann werden unformatierte Autorenfilme mit formatierten 08/15 Informationssendungen in einen Topf geworfen (um bei den Waffenbildern aus imperialistischen Zeiten zu bleiben).

Sinnvoller wäre eine Differenzierung wie beim Spielfilm. Dort unterscheidet man auch zwischen Fernsehfilmen und Kinofilmen, wobei die allermeisten Fernsehfilme genauso von der Stange sind, wie die Fernsehdokus. Gelegentlich läuft mal ein Kinofilm, an denen das Fernsehen beteiligt war. Ebenso ist es bei Dokumentarfilmen. Kreative Dokumentarfilme laufen vor allem auf Festivals und gelegentlich im Kino, im Fernsehen werden sie höchstens in den dritten Programmen sowie Spartensenern nach Mitternacht versteckt, währen die immer gleichen Leute ihre Visage zur besten Sendezeit in die Talkshowkameras halten oder Kommisar xyz zum Millionsten mal vorführt, dass die Reichen moralisch verwerflich weil potentiell kriminell sind, damit sich Michel und Michaela nicht darüber ärgern, dass die Reichen immer reicher werden, während die Armen immer zahlreicher werden. Und so bestimmt das TV-Sein das Bewusstsein.

Im Gegensatz zu Dokumentationen bevormunden Dokumentarfilme ihr Publikum nicht mithilfe eines Specherkommentars, der vorgibt, wie die Bilder zu verstehen sind. Deshalb ist die Begriffliche Differenzierung wichtig.
mash_gh4 hat geschrieben:so sehr ich auch die beschäftigung und querbezüge zur filmgeschichte schätze, so sehr würde ich deine strenge begriffliche trennung nicht unbedingt teilen. ich seh überhaupt kein problem darin, "doku" einfach als kurzform von "dokumentation", aber auch "dokumentarfilm", zu verstehen. an solchen begrifflichkeiten feinheiten sollte die kommunikation wirklich nicht scheitern.

ich hab auch kein großes problem damit, wenn das entsprechende feld relativ weit gefasst ist. da fällt eine ganze menge darunter, die mich nicht wirklich anspricht. ulrich seidel z.b. ist mir viel zu leicht verdaulich und mainstreamkompatibel, als dass ich mich ernsthafter mit seinen filmen auseinandersetzen würde. ich sehe das also genau umgekehrt zum frank glencairn.

der große dokukmentarfilmfan bin ich aber ohnehin nicht. ich schätze diese nische bzw. einzelne arbeiten und vertreter aus dieser ecke eigentlich fast nur deshalb, weil sich hier noch immer freiräume abseits der großen materialschlacht und industriellen produktion auftun. ob's mich dann aber tatsächlich beeindruckt, hat hauptsächlich damit zu tun, wie sehr die betreffenden akteure diese freiräume tatsächlich zu nutzen wissen, um auch in filmischer hinsicht -- d.h. in der spezifischen sprache dieses mediums -- etwas ernstzunehmendes zu schaffen. so lange das resultat nur als handwerklich routiniert umgesetzter mainstream zu verstehen ist, interessiert es mich einfach nicht weiter.



domain
Beiträge: 11062

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von domain »

Rechtlich interessant ist ja, dass dokumentarischen Filmen urheberrechtlich keine eigenständige Schöpfungshöhe zugeschrieben wird und sie demnach regelmäßig nur als beliebige Laufbilder eingestuft werden.

Ansonsten hat Sergej Eisenstein 1925 ganz gut erkannt:
„Für mich ist es ziemlich egal, mit welchen Mitteln ein Film arbeitet, ob er ein Schauspielerfilm ist mit inszenierten Bildern oder ein Dokumentarfilm. In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.“



Drushba
Beiträge: 2508

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Drushba »

domain hat geschrieben:Rechtlich interessant ist ja, dass dokumentarischen Filmen urheberrechtlich keine eigenständige Schöpfungshöhe zugeschrieben wird und sie demnach regelmäßig nur als beliebige Laufbilder eingestuft werden.
Das stimmt nun mal gar nicht! Ein Dokumentarfilm unterliegt aufgrund seiner geistigen Schöpfungshöhe demganz normalen Urheberrecht.
domain hat geschrieben: Ansonsten hat Sergej Eisenstein 1925 ganz gut erkannt:
„Für mich ist es ziemlich egal, mit welchen Mitteln ein Film arbeitet, ob er ein Schauspielerfilm ist mit inszenierten Bildern oder ein Dokumentarfilm. In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.“
Eisenstein war in erster Linie Propagandafilmer. Seine "Wahrheit" sollte der frühen Sowjetunion nutzen, sie ins beste Licht rücken. Die "Wirklichkeit" interessierte in offenkundig nicht wirklich. Dass seine filmischen Einfälle dabei so gut waren, daß "Panzerkreuzer Potemkin" u.a. Filmgeschichte schrieben, steht auf einem anderen Blatt.

Interessanter ist Wertow, der Gegenspieler von Eisenstein, den Eisenstein mit dem obigen Zitat erwischen wollte. Wertow verachtete den Spielfilm und versuchte sich am "Faktenfilm", "wo Lachen und Weinen, Sterben und Steuerzahlen nicht den Anweisungen eines Filmregisseurs unterworfen sind". Dafür wurde er in der Stalinzeit gemobt und nur deswegen nicht hingerichtet, weil er bereits zu berühmt war. Wertows "Faktenfilm", eine wichtige Variante, wenn auch nicht unproblematische Urform des Dokumentarfilms, zeigte nämlich auch das Elend der Sowjetunion bisweilen ungeschminkt.

Wertow glaubte daran, daß die Wirklich stark genug ist, um damit Propaganda zu betreiben, während Eisenstein auf die Lüge der Inszenierung setzte. An die Kraft der Wirklichkeit glauben auch heute lebende Dokumentarfimer, wenn auch die ernst zu nehmenden damit keine Propaganda betreiben wollen.

Das Beispiel von Wertow und Eisenstein zeigt auch, wie früh sich das Genre Dokumentarfilm von den bewußten Lügen des Inszenierens absetzen wollte und die ungeschminkte Wirklichkeit dagegen setzte. Daran hat sich bis heute im Grunde nichts geändert.
Zuletzt geändert von Drushba am Mi 31 Aug, 2016 15:05, insgesamt 1-mal geändert.



Helge Renner
Beiträge: 230

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Helge Renner »

Bereits das Aufstellen oder Hinhalten einer Kamera samt Wahl eines Bildausschnitts und dem Drücken von Record und Stop ist eine Form der Inszenierung von Wirklichkeit.
Drushba hat geschrieben:Das Beispiel von Wertow und Eisenstein zeigt auch, wie früh sich das Genre Dokumentarfilm von den bewußten Lügen des Inszenierens absetzen wollte und die ungeschminkte Wirklichkeit dagegen setzte. Daran hat sich bis heute im Grunde nichts geändert.



Drushba
Beiträge: 2508

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Drushba »

Helge Renner hat geschrieben:Bereits das Aufstellen oder Hinhalten einer Kamera samt Wahl eines Bildausschnitts und dem Drücken von Record und Stop ist eine Form der Inszenierung von Wirklichkeit.
]
Man kann es auch wie die Konservativen machen und bei Diskussionen über Moral das Absolute einfordern, verbunden mit dem Hinweis, daß dies eh nie zu erfüllen ist und daher jeder Anspruch auf Gerechtigkeit unnütz sei. Das ist ein retorischer Trick und so kommt mir diese Argumentation vor, die sich auch durch den ganzen Thread zieht. Was sollen wir daraus folgern? Das Dokfilmen ganz zu lassen? Zum Glück stimmt diese Unterstellung ganz einfach nicht. Wer einen Frame bestimmt, wählt Wirklichkeit aus, aber inszeniert diese nicht (es sei denn, er legt es darauf an). Ich habe etliche dokumentarische Situationen erlebt, wo Protagonisten ganz in ihren Gesprächen und Tätigkeiten versunken waren, ohne daß ich in irgendeiner Form störte oder beinflusste. Ich würde dies sogar als den dokumentarischen Normalzustand bezeichnen. Der Bildausschnitt war so gewählt, daß er das Geschehen zeigt. Etwas Kadrage dazu, mehr nicht. Auch zufällige Begegnungen des Protagonisten mit Fremden, die ganz einfach hinnehmen, daß eine Kamera dabei ist. Wenn Bauern auf einem Markt sich aufgeregt über den Preis einer Kuh unterhalten und sich dabei sogar persönlich angehen, nimmt niemand den Dokfilmer war. Und selbst wenn, hat dies dann keinen Einfluss auf das Verhalten der Protagonisten, weil die emotionale Anspannung über den Preis der Kuh eben das Drumrum überlagert :-) Das geht auch in leiseren Situationen. Es gibt natürlich Filmer, die sich gerne selbst inszenieren (geht ganz leicht mit übergoßem Team oder übergroßer Kamera, lauter Klappe ohne Einfühlungsvermögen etc.;-), die können das natürlich nicht und benötigen (wie oben ein Filmer von sich schreibt) ein 600er um weit genug weg zu sein, damit sie nicht stören. Wer bereit ist, sich zurück zu nehmen, kann das hingegen schon, ohne zu inszenieren.



Helge Renner
Beiträge: 230

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Helge Renner »

Weder ist das Quatsch noch ist es eine Frage der Moral. Wenn du deine Kamera auf etwas richtest, dann ist das deine selektive Sicht auf eine Wirklichkeit und bereits damit ist es unsinnig, von "der Wirklichkeit" zu sprechen. Dann werden die Szenen geschnitten und in eine dramaturgisch sinnvolle Reihenfolge gebracht, und fertig ist die Inszenierung. Daran ist absolut nichts schlechtes, aber es ist naiv, sich dessen nicht bewusst zu sein. Von mir aus kann man Inszenierung auch durch Manipulation ersetzen.
Drushba hat geschrieben:
Helge Renner hat geschrieben:Bereits das Aufstellen oder Hinhalten einer Kamera samt Wahl eines Bildausschnitts und dem Drücken von Record und Stop ist eine Form der Inszenierung von Wirklichkeit.
]
Quatsch. Man kann es auch wie die Konservativen machen und bei Diskussionen über Moral das Absolute einfordern, verbunden mit dem Hinweis, daß dies eh nie zu erfüllen sei und daher jeder Anspruch auf Gerechtigkeit unnütz sei. Das ist ein retorischer Trick und so kommt mir diese Argumentation vor, die sich auch durch den ganzen Thread zieht. Was sollen wir daraus folgern? Das Dokfilmen ganz zu lassen? Zum Glück stimmt diese Unterstellung ganz einfach nicht. Wer einen Frame bestimmt, wählt Wirklichkeit aus, aber inszeniert diese nicht (es sei denn, er legt es darauf an). Ich habe etliche dokumentarische Situationen erlebt, wo Protagonisten ganz in ihren Gesprächen und Tätigkeiten versunken waren, ohne daß ich in irgendeiner Form störte oder beinflusste. Ich würde dies sogar als den dokumentarischen Normalzustand bezeichnen. Der Bildausschnit war so gewählt, daß er das Geschehen zeigt. Etwas Kadrage dazu, mehr nicht. Auch zufällige Begegnungen des Protagonisten mit Fremden, die ganz einfach hinnehmen, daß eine Kamera dabei ist. Wenn Bauern auf einem Markt sich aufgeregt über den Preis einer Kuh unterhalten und sich dabei sogar persönlich angehen, nimmt niemand den Dokfilmer war. Und selbst wenn, hat dies dann keinen Einfluss auf das Verhalten der Protagonisten, weil die emotionale Anspannung über den Preis der Kuh eben das Drumrum überlagert :-) Das geht auch in leiseren Situationen. Es gibt natürlich Filmer, die sich gerne selbst inszenieren (geht ganz leicht mit übergoßem Team oder übergroßer Kamera, lauter Klappe ohne Einfühlungsvermögen etc.;-), die können das natürlich nicht. Wer bereit ist, sich zurück zu nehmen, hingegen schon.



Drushba
Beiträge: 2508

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von Drushba »

Helge Renner hat geschrieben:Weder ist das Quatsch noch ist es eine Frage der Moral. Wenn du deine Kamera auf etwas richtest, dann ist das deine selektive Sicht auf eine Wirklichkeit und bereits damit ist es unsinnig, von "der Wirklichkeit" zu sprechen. Dann werden die Szenen geschnitten und in eine dramaturgisch sinnvolle Reihenfolge gebracht, und fertig ist die Inszenierung. Daran ist absolut nichts schlechtes, aber es ist naiv, sich dessen nicht bewusst zu sein. Von mir aus kann man Inszenierung auch durch Manipulation ersetzen.
Inszenierung ist meiner Meinung nach, wenn ich eingreife. Z.B. wenn ich sage "komm jetzt noch mal durch diese Türe, ich hatte die Kamera gerade aus, als du reinkamst." Wiederholungen oder bewußte Inszenierungen halte ich beim beobachtenden Dokumentarfilm persönlich für völlig daneben - zudem geübte Zuschauer dies auch merken würden.

Das "Wirkliche" ist ganz einfach da, ob ich die Kamera nun draufhalte oder nicht. Es sind keine Quantenzustände die sich bei Beobachtung sofort ändern, es gibt genügend Puffer von situativer, emotionaler Überlagerung seitens der Protagonisten. Wenn diese in ihrer Welt bleiben können, vergessen sie ganz oft die Kamera und es entstehen die filmischen Momente, die so wertvoll sind.

Ein weiteres Problem und von Dir zurecht angesprochen, ist der Schnitt, verbunden mit diesem sogar in hochkarätigen Workshops geäußerten, aber nicht minder ekelhaftem Zwang zur Dramaturgie. Meiner Meinung nach ergibt sich die Dramaturgie aus dem Geschehen. War ich da, um Schlüsselmomente aufzunehmen ist es gut, wenn nicht, dann eben nicht. Wenn ein Film nicht aufgeht, geht er nicht auf. Dafür gibt es zur Not die Tonne (und von dieser Gebrauch zu machen, hat einen hohen pädagogischen Wert, um es beim nächsten Mal besser zu machen. Fast alle meine "Filmhochschulversuche" wanderten da rein ;-). Hier sehen wir eher das Spannungsfeld von Auftragsproduktionen, wo im Schnitt inszeniert werden muß, damit das Endergebnis rund wird und gefällt.



domain
Beiträge: 11062

Re: ARRI AMIRA – DOK Referenzdesign?

Beitrag von domain »

Die Frage ist m.E. immer, wie hoch der Anteil an gestalterischem Eigeninput bei dokumentarischen Filmen (nicht Dokumentarfilmen) ist.
Angenommen, man möchte nur einen Vortrag oder ein Bühnschauspiel in voller Länge und in Totale aufnehmen und wiedergeben. Keine spezielle Lichtsetzung und neben dir haben u.U. noch andere Kameramänner ihren Standort bezogen, die genau dieselben Aufnahmen machen.
Wo ist da der schöpferische Akt, die Handschrift des Autors?
Sind der Titel, der Nachspann oder einige kürzende Schnitte schon ein schöpferischer Akt?
Entspricht nicht dem Wesen des Urheberrechtes, das das verlangt, max. Leistungsschutz möglich.



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