ich komme erst jetzt zum Antworten. Für euren Einsatzfall mag das mit der unauffälligen Technik stimmen, man kann es aber nicht verallgemeinern. Bei meinen Projekten ist es eher eine Frage der Sperrigkeit und Tragbarkeit.
Davon abgesehen verändert jedes Filmteam, selbst Einpersonenproduktionen mit Kleinstkamera die Situation vor der Kamera. Dokumentarfilm dokumentiert auch immer den Einfluss der anwesenden Filmemacher auf den Film mit. Sofern die Protagonisten nicht gehirntot sind, bekommen sie ja mit, das gefilmt wird. Man kann als Filmemacher diesen Effekt nur minimieren, aber nicht beseitigen.
Dokumentarfilm ist also immer auch inszeniert, selbst wenn er völlig ungescriptet ist. Die Größe der Kamera bleibt dabei aus meiner Erfahrung ein sekundäres Problem. Es kommt natürlich auch darauf an, wie viel Zeit man vor und während der Dreharbeiten mit den Protagonisten verbringt. Wenn man Leute recherchiert, die vor allem noch aus völlig anderen Kulturkreisen kommen, einfliegt, filmt und wieder abdüst, dann ist das sicher eine andere Situation, als wenn man längere Zeit mit den selben Leuten filmt.
Interviews sind sowieso ein Sonderfall. Ich persönlich sehe lieber Filme mit möglichst wenig Interviews und viel Handlung, es sei denn, sie sind von Errol Morris. Interviews höre ich mir lieber im Radio an, z.B. Lebenslinien auf DLF. Warum in Deutschland soviel illustrierte Interviews produziert werden, die man dann Dokumentarfilm nennt, erschließt sich mir nicht so richtig. Noch schlimmer wird es, wenn ein paternalistischer Kommentar hinzu kommt. So altbacken wie die deutschen Fernsehdokus sind, so erfolglos sind deutsche Dokumentarfilme gemessen am Volumen von Filmförderung und Rundfunkbeitrag auf internationalen Festivals. Deshalb finde ich die Diskussion über Filmästhetik sehr bereichernd und freue mich, dass sich eine solche unter diesem Amira Testbericht entspinnt.
Viele Grüße
Helge
PrincipeAzzurro hat geschrieben:Ganz ohne Polemik und nur aus meiner eigenen Wahrnehmung der Realität und Erfahrung der letzten Jahre: von "Zweitrangigkeit" kann überhaupt nicht die Rede sein. Auch geht es nicht in erster Linie darum, "versteckt" zu drehen, sondern die Lebenssituationen Deiner Protagonisten und deren Umfeld durch Kameras nicht komplett zu verändern. Denn das Ur-Dilemma eines jeden Dokumentaristen liegt genau hier: wie stark verändere ich durch meine Präsenz die Authentizität meines Sujets, seiner Aussagen un Art und Weise zu sprechen, seines Umfeldes (Familie etc) und so weiter? Das Zusammenspiel der Präsenz von "Fremden" am Ort (also die Team-Größe, Art der Ausrüstung, das persönliche Auftreten und der Umgang mit den Menschen am Ort) stehen in unmittelbarem Verhältnis mit dem Resultat im Film. Auch mit "kleinen" Kameras ist die einzige Möglichkeit normalerweise, Deine Umgebung langsam an Dich (und: das Team der "Weißhäutigen", die Ausrüstung mit Rucksäcken voller Objektive, Mikrofone und überhaupt "Technik") zu gewöhnen, sodass nach ein paar Stunden (oder Tagen, oder Wochen…) das ursprüngliche Gleichgewicht wieder hergestellt ist - zumindest einigermaßen.Helge Renner hat geschrieben:Die Größe und Auffälligkeit der Kamera ist hingegen zweitrangig. Solange nicht die Notwendigkeit besteht, unbemerkt zu filmen, ist es egal, wie groß die Kamera ist. Wenn man es als Dokumentarfilmer nicht schafft, dass die Kamera die Protagonisten nicht stört, dann hat man andere Probleme, als die Größe der Kamera.
Und dann hast Du meist ein inhaltliches Problem, was nicht zu unterschätzen ist und meist sehr viel länger braucht, um "ausgeglichen" zu werden: denn sehr oft sprechen Deine Protagonisten beim ersten Gespräch über ihr "Thema" in einer völlig anderen, meist sehr viel ungefilterten, unbefangenen Art, als sie es nach einer gewissen "Gewöhnung" an Dich (dein Team etc) tun. Und natürlich willst Du (meist) diese erste Begegnung im Film, denn dabei benutzten die Protagonisten "ihre" Worte, "ihre" Sprache etc, während nach soundsoviel Tagen der "Gewöhnung" fast zwangsläufig eine Art von gegenseitiger Beeinflussung stattfindet. Denn so wie Du zum Beispiel von dem kaschmirischen Bootsmenschen und seiner Lebensart beeindruckt bist und sie versuchst möglichst authentisch zu filmen, so ist auch er (der Kaschmiri) von Dir "beeindruckt" (da kommt einer 10.000km aus Europa um mich zu filmen) und versucht, sich Dir zu "nähern", es Dir "recht zu machen" usw.
Noch anders sieht es aus, wenn Du in Ländern drehst, wo die Menschen entweder keine Kameras gewohnt sind, oder durch die politische bzw. politisch-religiöse Situation ihres Landes bzw. Kulturkreises Kameras "als solche" verboten oder verpönt sind. Geh mal in Saudi-Arabien - auch in Riyadh - mit einer Amira durch die Strassen der Altstadt - selbst wenn Du eine Drehgenehmigung hast, wird Dein Auftauchen mit einem solchen Teil sehr viel eher dazu führen, dass die Menschen vor Dir "fliehen", als wenn Du mit einer DSLR oder einer BMPCC daher kommst. Denn "Bilder" sind in ihrem Glauben "schlecht" und nicht verankert, sondern explizit verboten bzw. durch dieses lange Verbot auch gesellschaftlich komplett verpönt. Und bis Du ihnen "erklärt" hast, dass Du erstens offiziell filmen darfst und zweitens ihnen mit Deiner Kamera nicht "die Seele wegnimmst" (authentisches Zitat), ist durch genau diese Art von Gespräch ein riesiger Teil der ursprünglichen Unbefangenheit bereits "verschwunden" - sehr oft unwiederbringlich. Und genau hier hilft eine kleine BMPCC sehr viel mehr als eine 60cm+ Amira, diese Art von Gespräch oder Diskussion zu verkürzen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Das ist die - leider doch etwas längere - Antwort auf den Satz, dass Größe und Auffälligkeit der Kameras "zweitrangig" sind. Ich könnte mehr und länger schreiben, ist aber nicht der Ort / der Zeitpunkt dafür…